Praxis:Nah 11/2025 – Einblick in gelingende Senior:innenarbeit
Das Bielefelder Netzwerk selbstorganisierter Wohnprojekte e.V. ist ein Zusammenschluss von ehrenamtlich und gemeinnützig engagierten Personen aus derzeit elf Wohnprojekten. Sieben dieser Projekte wurden zwischen 2009 und 2020 fertiggestellt und bieten nun Wohn- und Lebensraum für rund 230 Erwachsene und 65 Kinder. Dabei hat jedes Projekt seine eigene (Entstehungs-)Geschichte und ein spezifisches Profil – verbunden werden sie jedoch durch das gemeinsame Interesse an neuen gemeinschaftlichen Wohnformen. Das Netzwerk besteht seit 2007 und ist seither Teil größerer Strukturen. Dazu gehört neben dem regelmäßigen Austausch mit der Kommunalpolitik und -verwaltung, regionalen Fachakteur:innen aus Planung und Bau sowie überregionalen Organisationen des gemeinschaftlichen Wohnens auch die Mitgliedschaft im FORUM Gemeinschaftliches Wohnen e.V. , dessen Regionalstelle seit 2019 in einem Bielefelder Wohnprojekt angesiedelt ist.
Ziel des Netzwerks ist es, Erfahrungen beim Planen, Bauen und Wohnen systematisch zu reflektieren und dieses Wissen an neue Initiativen und Interessierte weiterzutragen. Dadurch soll die Entstehung selbstorganisierter Wohnprojekte gefördert und verbessert sowie das Leben in ihnen kontinuierlich weiterentwickelt werden. Interessierte erhalten durch das Netzwerk Unterstützung beim Finden von Gleichgesinnten, der Gestaltung von Gruppenprozessen, dem Erwerb von Fachwissen sowie beim Aufbau von Kontakten zu Investor:innen, Architekt:innen und der Kommune.
Selbstorganisierte Wohnprojekte entstehen aus der Mitte der Gesellschaft und werden nicht „von oben“ verordnet, wodurch sie eine besondere Rolle in der Stadtentwicklung einnehmen. Nahezu alle bestehenden Projekte richten ihre Angebote bewusst auch an die Nachbarschaft und darüber hinaus. Gemeinschaftlich genutzte Räumlichkeiten werden
regelmäßig für Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, Vorträge oder Gesundheitskurse geöffnet. Dadurch beleben sie Quartiere und fördern soziale Vernetzung, wozu auch die Mischung aus unterschiedlichen Haushaltsformen, Generationen, Nationalitäten und Einkommensgruppen beiträgt. So kann einseitigen sozialen Entwicklungen wie Gentrifizierung entgegengewirkt werden. Die Wohnprojekte tragen damit aktiv dazu bei, stabile, lebendige und vielfältige Nachbarschaften zu schaffen und leisten dadurch einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen des demografischen Wandels. Sie schaffen neue Formen des Miteinanders, Nähe, Verlässlichkeit und Gemeinschaftlichkeit und bieten Rückhalt und Unterstützung.
Unterstützung im Alltag ist hier allerdings längst gelebte Praxis: Sie reicht von Leihgaben vergessener Kochzutaten bis hin zur Begleitung zu Arztterminen und darüber hinaus. Angesichts des steigenden Durchschnittsalters und hohen Anteils Alleinlebender in Deutschland – und auch in den Wohnprojekten – rückt das Thema Caring (zu dt. Sorge) über die Alltagshilfen hinaus zunehmend stärker in den Fokus der Bewohner:innen der Wohnprojekte. Seit rund zwei Jahren beschäftigt sich das Netzwerk daher auch systematisch mit dem Thema Care. Projekte und Strukturen rund um das Thema werden initiiert und Erfahrungen gesammelt. Dazu gehören eingeführte Angehörigen-Notfalllisten, Lebenszeichen-Absprachen, Regelungen für den Zugang zu Wohnungsschlüsseln, Vollmachten, Notfalldosen und die Organisation von Caring-AGs in einzelnen Projekten. Bisher sind diese Strukturen jedoch oft noch unsystematisch und beziehungsorientiert geprägt: Hilfebedarf wird v.a. durch vertraute Personen abgedeckt, was im Akutfall an Grenzen stoßen kann. Erste Erfahrungen zeigen jedoch auch, dass schwerwiegendere Unterstützungsbedarfe, Krankenhausaufenthalte oder Todesfälle bewältigt werden können, wenn klare Absprachen bestehen. Die Weiterentwicklung hin zu einer Verantwortungs- oder sogar sorgenden Gemeinschaft (engl. Caring Community), in der Fürsorge systematisch organisiert und alle Bewohner:innen einbezogen werden, ist ein noch weiter Weg. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass ein solches Modell in gemeinschaftlichen Wohnprojekten realistisch und zukunftsweisend sein kann.
Kontakt und weitere Informationen
Frau Monika Klostermann
Telefon:0521-68434
E-Mail: kontakt@bielefelder-netzwerk-wohnprojekte.de
Web: https://bielefelder-netzwerk-wohnprojekte.de
Kriterien für gelungene Praxis – Zugang, Durchführung und Transfer
Wie die Angebote und Leistungen im Wirkungsbereich der Arbeit mit und für ältere Menschen in Deutschland erweisen sich auch die Kriterien für gelungene Praxis als vielfältig. Sowohl für bereits langjährig tätige Akteur:innen als auch Neueinsteiger:innen haben Köster und Kolleg:innen (2008) in diesem Sinne 12 Qualitätsziele (QZ) formuliert, eingebettet in die drei Qualitätszieldimensionen: Zugangs-, Durchführungs- und Transferqualität, die Akteur:innen in ihrer Arbeit eine Orientierung bieten.
Im Rahmen des Zugangs fragen die zugehörigen QZ nach der Ausarbeitung einer zielgruppenspezifischen und gegenüber Lebenslagen sensiblen Ansprachestrategie für ein Angebot oder eine Leistung von Akteur:innen. In der Dimension Durchführung werden anschließend Fragen nach Selbstbestimmung und Mehrwert für Angebotswahrnehmende und dessen nachhaltige Sicherung gestellt. Im Transfer geht es dann darum, Gelerntes aus der Anwendungsfähigkeit und -praxis sowie den Nutzen zu reflektieren.
Die einzelnen Qualitätsziele dienen dabei als Instrumente, um das individuelle Leitbild der Akteur:innen zu sichern. Aus diesem Grund gilt auch nicht „Je mehr, desto besser“. Qualitätsziele dienen dazu, eine Stimmigkeit und Begründetheit der Angebote und Leistungen mit dem Leitbild der Akteur:innen prozessual (wieder-)herzustellen. Akteur:innen stellen sich im Rahmen der Qualitätsziele also Relfexionsfragen, was für ihr jeweiliges Angebot oder ihre Leistung vor dem Hintergrund des Leitbildes Sinn ergibt und möglich ist.
Zugangsqualität
- Milieu- und geschlechtsspezifische Unterschiede werden berücksichtigt
- Individuelle Bedürfnis-, Interessen- und Ressourcenorientierung an den Engagierten
- Es besteht eine grundsätzliche Offenheit gegenüber neuen Themen, Ideen und Konzepten
- Transparenz, Sichtbarkeit und Vernetzung mit anderen Akteur:innen im Feld
Durchführungsqualität
- Ein verlässlicher Etablierungsrahmen besteht
- Diversifizierte Expertisen und Kompetenzen kommen zusammen
- Kontakt- und Gemeinschaftsförderung sowie -etablierung werden gefördert
- Prozesse und Strukturen erfolgen partizipativ (Informations-, Mitwirkungs- und Mitentscheidungsstrukturen)
Transferqualität
- Ermöglichungsstrukturen für freiwilliges Engagement und Multiplikation bestehen
- Kompetenz- und ressourcenorientierte Selbstorganisation wird gefördert (Maßnahmen und Projekte, ggf. über Projektrahmen hinaus)
Literaturhinweise
Köster, D., Schramek, R. & S. Dorn, 2008: Qualitätsziele moderner SeniorInnenarbeit und Altersbildung. Oberhausen: ATHENA.
